Fluchtgeschichten

Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration sind nicht nur historische Phänomene. Im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart teilen Millionen Menschen dieses Schicksal. Die Zahl der Menschen, die im Jahr 2022 weltweit vor Krieg, bewaffneten Konflikten und Verfolgung geflohen sind, lag laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR schon zur Jahreshälfte bei 100 Millionen und war damit so hoch wie nie zuvor.

Welche Ursachen zu Flucht und Vertreibung führen und was diese schwerwiegenden Erfahrungen für die Betroffenen bedeuten, ist Thema der Ausstellung „Das Jahrhundert der Flucht“ im Dokumentationszentrum.
Symbolisch für die meist schweren und langen Wege von Flüchtlingen und Vertriebenen steht das Objekt des Schuhs. In unserer Ausstellung werden auch verschiedene Schuhe gezeigt, anhand derer wir die Fluchtgeschichten ihrer Besitzer erzählen.

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Schuhe, 2017 Kilometer Fluchtweg
Olha (40) hat mit ihrem 16 Jahre alten Sohn Lew und der acht Jahre alten Tochter Margarita in Charkiw gelebt. Sie arbeitete in einer großen Firma als Personalmanagerin. Als der Krieg ausbrach, erinnerte sie sich an schreckliche Geschichten ihres Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg. Ohne ein Ziel vor Augen floh sie am 3. März mit ihren beiden Kindern Richtung Westen. Eine lange beängstigende Reise führte sie über Poltawa, Krementschuk, Ternopil und Mukatschewo an die Grenze zu Ungarn und weiter nach Budapest. Dort stieg die Familie in den Zug und erreichte am 13. März Berlin.© SFVV, Foto: Dorothea Letkemann

Flucht aus der Ukraine

Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Im ganzen Staatsgebiet fielen Bomben. Die Invasion der russischen Truppen dauert mit zunehmender Härte und Zerstörung an. In Folge des Krieges waren Millionen von Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Laut UNHCR wurden bisher über 7,6 Millionen Ukrainer*innen in Europa als Flüchtlinge registriert. Außerdem sind über 6,2 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht. Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Blaue Badeschuhe, 7002 Kilometer Fluchtroute
Moussa (Name geändert) ist 22 Jahre alt und stammt aus Pakistan. Über den Persischen Golf gelangte er nach Dubai in die Vereinigten Arabischen Emirate und von dort weiter über den Landweg nach Alexandria (Ägypten) und Libyen. Zwei Monate verbrachte er in Libyen, bevor er das Boot eines Schleppers besteigen konnte, das ihn nach Europa bringen soll. Moussa ist von der zivilen Seenotrettung aus dem Mittelmeer gerettet worden.© SFVV, Foto: Max Cavallari/ SOS Humanity

Routen über das Mittelmeer

Die hier abgebildeten Schuhe stammen von Geflüchteten, die am 22. Oktober 2022 von der HUMANITY 1, einem Seenotrettungsschiff der zivilgesellschaftlichen deutschen Organisation SOS HUMANITY, von einem Holzboot auf dem Weg von Libyen nach Italien aus dem Mittelmeer gerettet worden sind.

Die Route über das Mittelmeer gehört zu den gefährlichsten Wegen aus den Krisenregionen der Welt nach Europa. Jährlich ertrinken hierbei tausende Menschen oder werden vermisst, eine genaue Zahl ist nicht ermittelbar. In diesem Jahr liegt die offizielle Zahl der Menschen, die bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind, schon bei 2000.
Nach vielen Tausend Kilometern und Erfahrungen von Hunger und Gewalt ist der Weg über das Meer für viele Flüchtlinge und Migrant*innen oftmals der einzige Ausweg. Gerade aus Libyen fliehen die meisten, um der Gewalt und willkürlichen Internierung in den libyschen Lagern zu entfliehen. Die Menschen begeben sich in die Hände von Schleppern, die sie auf meist seeuntauglichen Holz- oder Schlauchbooten von der Türkei nach Griechenland oder von Lybien nach Italien und Spanien befördern.

Die meisten Menschen müssen ihre Schuhe zurücklassen, bevor sie auf die Schlauchboote steigen. Die Gefahr ist groß, dass das Boot durch Schuhwerk beschädigt wird und sinkt. Die Menschen sind auf ihrer oftmals mehrtägigen Fahrt Wind, Wasser und eisiger Kälte direkt ausgesetzt.

Auch nach der Rettung bleibt die Situation der Menschen schwierig: Den Schiffen der Seenotrettung wird oftmals die Einfahrt in europäische Häfen verwehrt. Die geflüchteten Menschen werden danach oft lange Zeit in überfüllten Lagern und Unterkünften untergebracht und unzureichend verpflegt.

Schwarze Schnürschuhe
Berta lebte mit Mann, Kindern und weiteren Angehörigen auf einem Bauernhof im niederschlesischen Looswitz (heute: Łaziska). Am 10. Februar 1945 begab sich die Familie mit einem Treck über Bautzen in Richtung Westen und erreichte ihr vorläufiges Ziel, Geilsdorf in Thüringen, etwa einen Monat später, am 3. März 1945. Die Familie bewarb sich bei der örtlichen Bodenkommission für Ackerflächen. Die schlechten Ausgangsbedingungen (fehlendes Saatgut und Geräte, keine Wohnung) bewegte die Familie aber zur Weiterfahrt. Am 6. November 1945 brachen sie zu Verwandten nach Rudersberg in Württemberg auf. Die Familie überquerte dazu nachts die Grenze durch die Saale. Am 11. November 1945 erreichten sie Rudersberg.© SFVV, Foto: Stephan Falk

Flucht und Vertreibung der Deutschen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs

Auch Millionen Deutsche haben Flucht oder Vertreibung erfahren. Der Ursache hierfür ist der von Deutschland ausgegangene Zweite Weltkrieg mit der Vernichtung und Ausbeutung von Millionen Menschen in großen Teilen Mittel-, Ost- und Südeuropas. Vor diesem Hintergrund sah die Nachkriegsordnung der Alliierten Grenzveränderungen und Bevölkerungsverschiebungen vor. In den letzten Kriegsmonaten flohen Millionen Deutsche vor der Roten Armee nach Westen. Die meisten Menschen, die in den Ostgebieten des Deutschen Reiches und in Mittel- und Südosteuropa lebten, wurden nach Kriegsende vertrieben.